Gehirnevolution - durch die Veränderung einer einzigen Aminosäure
12.09.2022
Durch die Veränderung einer einzigen Aminosäure ist die Gehirnevolution anders verlaufen
München | Dresden: Obwohl Neandertaler und moderne Menschen ähnlich große Gehirne haben, war bislang wenig darüber bekannt, ob sich die Gehirne darin unterscheiden, wie viele Nervenzellen sie während der Gehirnentwicklung bilden. Ein internationales Forscherteam am Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden konnte nun zeigen, dass eine Variante des Proteins TKTL1, die moderne Menschen in sich tragen und die sich nur um eine einzige Aminosäure von der Neandertaler-Variante unterscheidet, eine entscheidende Rolle bei der Gehirnentwicklung spielt.
Foto: Mikroskopische Aufnahme einer sich teilenden basalen radialen Gliazelle, einer Vorläuferzelle, aus der während der Gehirnentwicklung Neuronen entstehen. Modernes menschliches TKTL1, aber nicht das des Neandertalers, erhöht die Anzahl der basalen radialen Gliazellen und Neuronen. Foto: Max-Planck-Gesellschaft MPI-CBG © Pinson et al., Science 2022
Durch diese Proteine-Variante bildet sich vermehrt ein Typ von Vorläuferzellen im Gehirn von modernen Menschen, die basalen radialen Gliazellen. Diese produzieren den Großteil der Nervenzellen im sich entwickelnden Neokortex. Dieser Teil des Gehirns ist für viele kognitive Fähigkeiten entscheidend. Da die Aktivität von TKTL1 im Frontallappen des fötalen menschlichen Gehirns besonders hoch ist, schlussfolgert das Forscherteam, dass es aufgrund dieser einzigen menschenspezifischen Veränderung einer Aminosäure zu einer vermehrten Bildung von Nervenzellen im sich entwickelnden Frontallappen des Neokortex von modernen Menschen kommt.
Zwischen dem modernen Menschen und unseren ausgestorbenen Verwandten, den Neandertalern und Denisovanern, gibt es nur bei wenigen Proteinen Unterschiede in der Abfolge der Aminosäuren – den Bausteinen der Proteine. Die biologische Bedeutung dieser Unterschiede für die Entwicklung des Gehirns des modernen Menschen war bislang weitgehend unbekannt. Sowohl der moderne Mensch als auch der Neandertaler haben ein ähnlich großes Gehirn, vor allem einen ähnlich großen Neokortex. Ob diese ähnliche Größe des Neokortex auch eine ähnliche Anzahl von Nervenzellen bedeutet, war ebenfalls noch unklar.
Foto: Weniger Chromosomentrennungsfehler in neuronalen Stammzellen des modernen Menschen im Vergleich zum Neandertaler. Linke Seite: Mikroskopaufnahme der Chromosomen (in Cyan) einer neuronalen Stammzelle des modernen Menschen im Neokortex während der Zellteilung. Rechte Seite: dieselbe Aufnahme, aber von einer Zelle, in der drei Aminosäuren in den beiden Proteinen KIF18a und KNL1, die an der Chromosomentrennung beteiligt sind, von der modernen menschlichen Variante zur Neandertaler-Variante verändert wurden. Diese "neandertalisierten" Zellen weisen doppelt so viele Chromosomenverteilungsfehler auf (roter Pfeil). Foto: Max-Planck-Gesellschaft MPI-CBG © Felipe Mora-Bermúdez
Die neueste Studie der Forschungsgruppe von Wieland Huttner, einem der Gründungsdirektoren des Max-Planck-Instituts für molekulare Zellbiologie und Genetik in Dresden, die zusammen mit Svante Pääbo, Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, und Pauline Wimberger vom Universitätsklinikum Dresden und ihren Kollegen durchgeführt wurde, befasste sich genau mit dieser Frage.
Arginin statt Lysin
Das Forscherteam hat sich dazu eines der Proteine angeschaut, das bei allen modernen Menschen im Vergleich zu den Neandertalern eine einzige Aminosäureveränderung aufweist: das Protein Transketolase-like 1 (TKTL1). Bei modernen Menschen enthält TKTL1 an der betreffenden Sequenzposition ein Arginin, während es bei Neandertalern die verwandte Aminosäure Lysin ist. Im fötalen menschlichen Neokortex findet sich TKTL1 in neokortikalen Vorläuferzellen, den Zellen, aus denen sich alle kortikalen Nervenzellen ableiten. In den Vorläuferzellen des Frontallappens ist die Konzentration von TKTL1 besonders hoch.
Anneline Pinson, die Erstautorin der Studie, untersuchte die Bedeutung dieser einen Aminosäureänderung für die Entwicklung des Neokortex. Dazu brachte sie und ihre Kollegen entweder die TKTL1-Variante des modernen Menschen oder die des Neandertalers in den Neokortex von Mausembryonen ein. Sie beobachtete, dass basale radiale Gliazellen, die Art von neokortikalen Vorläuferzellen, von denen man annimmt, dass sie die treibende Kraft für ein größeres Gehirn sind, mit der Moderne-Menschen-Variante von TKTL1 vermehrt wurden. Mit der Neandertaler-Variante vermehrten sie sich nicht. Infolgedessen enthielten die Gehirne von Mausembryonen mit Moderne-Menschen-TKTL1 mehr Nervenzellen.
Foto: Anneline Pinson ist Forscherin in der Gruppe von Wieland Huttner. Foto: Max-Planck-Gesellschaft,© MPI-CBG
Anschließend untersuchte das Forscherteam, welche Relevanz diese Ergebnisse für die Entwicklung des menschlichen Gehirns haben. Dazu ersetzten sie das Arginin in TKTL1 des modernen Menschen durch das für das TKTL1 des Neandertalers charakteristische Lysin. Dabei kamen menschliche Hirnorganoide zum Einsatz – organähnliche Miniaturstrukturen, die aus menschlichen Stammzellen in Zellkulturschalen im Labor gezüchtet werden können und die Aspekte der frühen menschlichen Gehirnentwicklung nachahmen.
„Wir fanden heraus, dass mit dem Neandertaler-Typ der Aminosäure in TKTL1 weniger basale radiale Gliazellen produziert wurden als mit dem Moderne-Menschen-Typ, und folglich auch weniger Nervenzellen“, sagt Anneline Pinson. „Obwohl wir nicht wissen, wie viele Nervenzellen das Neandertaler-Gehirn hatte, können wir annehmen, dass moderne Menschen mehr Nervenzellen im Frontallappen des Gehirns haben, wo die TKTL1-Aktivität am höchsten ist, als Neandertaler.“
Veränderungen im Stoffwechsel
Das Forscherteam stellte außerdem fest, dass TKTL1 beim modernen Menschen durch Veränderungen im Stoffwechsel wirkt, insbesondere durch eine Stimulierung des Pentosephosphatweges, gefolgt von einer erhöhten Fettsäuresynthese. So dürfte TKTL1 des modernen Menschen die Synthese bestimmter Membranlipide erhöhen, die für die Bildung des langen Prozesses der basalen radialen Gliazellen benötigt werden, der ihre Vermehrung anregt und somit die Nervenzellproduktion erhöht.
„Man kann aufgrund dieser Ergebnisse vermuten, dass die Bildung von Nervenzellen im Neokortex während der fötalen Entwicklung beim modernen Menschen größer ist als beim Neandertaler, hauptsächlich im Frontallappen“, fasst Wieland Huttner, der die Studie leitete, zusammen. „Es ist durchaus denkbar, dass dies die kognitiven Fähigkeiten des modernen Menschen, die auf dem Frontallappen beruhen, gefördert hat.“
Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik, Dresden

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